Transmigration und Englischlernen

Wenn wir die Verbreitung und den Einfluss englischsprachiger Medien, Kultur, Wirtschaft und Politik betrachten, erkennen wir, dass Englisch eine globale Sprache ist. Hinsichtlich der quantitativen Verbreitung übertreffen die Mandarin-Varianten zusammengenommen wahrscheinlich die Zahl der Englischsprecher/innen, aber allein schon die globale Ausdehnung des Englischen ist unbestreitbar. Gleichzeitig nehmen die Wanderungsbewegungen in der Weltbevölkerung zu. Gegenwärtig ist die Migrationsrate höher als nach dem Zweiten Weltkrieg, die höchste seit Jahrzehnten. Für Lehrerinnen und Lehrer ist der Fall eingetreten, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Zunahme des globalen Englischlernens und der Art und Weise gibt, wie die Sprache selbst während der zunehmenden Transmigration genutzt wird.

Transmigration

Transmigration erweitert das klassische Verständnis von Migration als einer unidirektionalen Bewegung um die Sichtweise, dass sie eher als ein Netz von Bewegungen in zahlreiche (manchmal unvorhersehbare) Richtungen zu betrachten ist. Selbstidentität, Kultur und Sprache lassen sich dann nicht mehr als kohärente nationalstaatliche Konstruktion begreifen; vielmehr beruhen sie auf einer Kombination globaler Erfahrungen. Bei der gegenwärtig hohen Frequenz von Migrationsbewegungen könnte Englisch ein wichtiges Instrument der erfolgreichen Migration und in den ersten Jahren auch der Niederlassung in neuen Regionen sein. Tatsächlich kann sich aufgrund dieser neuen Situation die Art und Weise ändern, wie wir den Gebrauch des Englischen (als internationale Sprache) lehren und erforschen.

Lehr- und Forschungsmethoden für (Trans)Migrant/innen

Derzeit sehe ich zwei Bereiche, in denen es darum geht, wie Englisch für (Trans)Migrant/innen gelehrt und erforscht wird. Englisch wird oft mit der Absicht gelehrt, muttersprachliches Niveau zu erreichen auf der Grundlage abstrakter Konzepte, die sich in lebensweltlichen Situationen nicht als nützlich erweisen. Wie wichtig ist Renaissance-Englisch für Lernende, deren Familie für einen neuen Arbeitsplatz oder wegen drohender Abschiebung umzieht? Das Englischlernen sollte auch als ein Instrument der Migration betrachtet werden, das Erfolg und Überleben in Bewegungs- und Niederlassungssituationen ermöglicht. Auch die reiche englischsprachige Literatur zur Migration (z.B. T.C. Boyle The Tortilla Curtain, John Steinbeck Grapes of Wrath, Chimamanda Adiche Americanah und NoViolet Bulawayo We Need New Names) könnte sinnvoll mit autobiografischen Selbstreflexionsaufgaben und praktischen Sprachübungen gekoppelt werden um zu sehen, wie Englisch in bestimmten Situationen der (Trans)Migration verwendet wird.

Jenseits nationaler Methodologien

Zweitens sollte die Verwendung der englischen Sprache auch jenseits nationaler Methodologien erforscht werden. Anstatt uns an (über-)nationalen Bildungsstandards und -anforderungen zu orientieren, müssen wir uns genau ansehen, wie Englisch (und andere Sprachen) tatsächlich von unseren globalen Student/innen benötigt werden. Dazu müssen wir uns selbst in die zu erforschenden Felder begeben, anstatt diese von außen zur erforschen. Ethnographische Untersuchungsmethoden sind ein guter Anfang, aber wir müssen uns vielleicht noch mehr einbringen. Linda Tuliwai Smith ist daher der Meinung, dass „die Forschung keine unschuldige oder ferne akademische Übung ist, sondern eine Tätigkeit, bei der es um viel geht und die unter einer Reihe von politischen und sozialen Bedingungen stattfindet“ (1999: 5). Auch als Lehrer/innen sind wir Forscher/innen auf unserem eigenen Gebiet, und wir sollten in den Bedingungen unserer Schüler zu Hause sein, um die Ziele unseres Unterrichts bestimmen zu können.

Gießen: ein Ort des globalen Englisch

Die Universitätsstadt Gießen liegt 45 Minuten nördlich von Frankfurt/Main und ist Anlaufstelle für viele Asylbewerber nach Maßgabe der Verträge der Vereinten Nationen. Als eines der wichtigsten Zentren für Asylbewerber in der Region bietet es Zuflucht für Menschen, die vor Gewalt und Verfolgung auf der ganzen Welt fliehen. Für zahlreiche Menschen aus Syrien war Englisch wahrscheinlich ein Instrument des Überlebens und letztlich ihres Erfolgs in Gießen gewesen. Nach dem Start eines Bildungsprojektes, der Freien Schule Gießen, lernte ich diese Menschen kennen, und ihre Geschichten über den Umgang mit dem Englischen während ihrer Auswanderung nach Deutschland haben mein Verständnis vom Englischunterricht geprägt. Ich fragte sie, ob sie Englisch benutzt hätten, um nach Deutschland zu reisen. Eine Person aus Syrien schrieb:

Ich habe Englisch in allen Ländern bis nach Deutschland benutzt. Ich benutzte Englisch hauptsächlich, um mit der Polizei auf dem ganzen Weg nach Deutschland zu sprechen. Ich habe es auch benutzt, um ein Hotel oder ein Restaurant zu buchen oder um nach Orten zu fragen und wie wir sie erreichen können. Ich habe auch Englisch in den Camps benutzt, wie zum Beispiel in Griechenland; wir hatten keine Übersetzer oder sie sind nicht immer verfügbar, also habe ich für die Leute dort übersetzt. Auch für den medizinischen Check oder die Medizin für die Kranken im Camp haben wir nur Englisch verwendet.

Englisch für das Überleben

Der Gebrauch des Englischen könnte ein wichtiges Mittel zum Überleben während der Migration sein, wie an der obigen Antwort zu erkennen ist. Für andere bedeuteten ihre Englischkenntnisse den Unterschied zwischen Ankunft und möglicher Abschiebung durch die Grenzpolizei (lesen Sie die bemerkenswerte autobiografische Geschichte: „A Train Trip“). Als Lehrer/innen müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass einige unserer Schüler/innen (wieder) mit gefährlichen, unvorhersehbaren Situationen in ihrem Leben konfrontiert werden. Für einige war Englisch ein Instrument, das die erfolgreiche Auswanderung und Ansiedlung in neuen Ländern ermöglichte. Wir müssen daher selbst Teil der sozialen Bedingungen unserer Lernenden sein, weil das, was sie wirklich brauchen, grundlegend verschieden sein kann von dem, was wir erwartet haben. Dieser Unterschied kann sehr schwer wiegen.

Zitat:
Smith, Linda Tuliwai (2012). Decolonizing Methodologies. New York, New York: Zed Books.

A story of migration: „A train trip“

3 Kommentare

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  • Juliane Witzenberger hat einen Kommentar zur englischen Version dieses Artikels geschickt. Sie schreibt:

    Thank you for this insight in the topic, and a big thank you especially for the transcript “A train trip”. I am an English teacher in training (Referendarin) at a Gymnasium in Hessen. Our school’s curriculum follows the syllabus proposed by Klett’s Green Line, and the textbook for grade 8 starts with the topic “Reasons for Travelling”, which includes a very brief (and in my opinion insufficient) look at the topic of (forced) migration. I have been looking for an authentic text to support this topic a bit better, and this one fits perfectly. I am excited to see what my students will think of it.

  • Thank you for sharing this valuable teaching experience. It is of paramount importance that in our daily work we keep being attentive for pressing cultural and also political developments like refuge and migration. Your commentary addresses the crucial issue of how, while working with prefigured content and topics in curricula, syllabi and textbooks, we should be able to integrate new topics and up-to-date materials into our language learning classrooms. I very much like the idea of combining coursebook work with the discussion of current issues and new materials. As I suggested a while ago, this way the textbook may well serve as a window to a whole textual universe beyond the classroom and a gateway to most relevant current cultural discourses.

  • I greatly appreciate your perspective and comments on the subject! This may seem contradictory at first but, I think that the subject of migration may connect people more than we think. Migration is of course an age-old phenomenon in human history. Whether for work, sustenance or love or due to war and conflict, migration has been a global, human occurrence since – well – forever! English (and more generally, multilingualism) may be the initial mediator in increasing contact between new cultures. This might be a big asset for the English language classroom as well. Students or their families might in all likelihood have experience with migration in the past, present or future. As teachers we should utilize this knowledge. One idea would be to use (auto)biographical classroom tasks to connect students through the subject of migration, as well as, to bridge and expand material from the textbook on migration. E.g. have you or has anyone in your family moved to a different country? Did your grandparents or great-grandparents move? What were their experiences? Can you describe a situation they were in? What words/expressions would they need to know to succeed?
    If anyone has used other (auto)biographical classroom tasks in this manner, I’d love to hear of your examples or experience!

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