School Shootings: Die prekäre Fiktionalität eines Diskurses

Die gegenwärtige Debatte um faktentreue und faktenwidrige Behauptungen und Nachrichten suggeriert, dass es eine klar erkennbare Grenze zwischen Fakten und Fiktion gibt. Bei allem notwendigen Beharren auf dem Wert von Fakten- und Wahrheitstreue: So einfach liegen die Dinge nicht. Denn Gesellschaften sind stets auch auf kulturellen Imaginationen gebaut, die sich in erheblichem Maße aus den Fiktionen in Literatur und Film speisen. Silke Braselmann, Doktorandin am International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) und am Institut für Anglistik der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU), hat sich in ihrer sehr lesenswerten Dissertation mit dem Titel Approaching the Inexplicable. The Fictional Dimension of the School Shooting Discourse (November 2017) auf das Eingehendste mit diesem Phänomen beschäftigt. Prekär ist diese fiktionale Dimension deshalb, weil ihr Gegenstand die unbestreitbare physische Auslöschung (meist jungen) menschlichen Lebens in Schulamokläufen ist. Es ist jedoch gerade das Unfassbare solcher Taten wie jener in Columbine 1999, das der Fiktionalisierung bedarf, damit es überhaupt erzählbar wird.

Studienpreis der Körber-Stiftung für Silke Braselmann

Silke Braselmann im GCSC im April 2018

Soeben hat Silke Braselmann für ihre exzellente und zugleich gesellschaftlich enorm wichtige Arbeit den renommierten Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung 2018 in der Sektion Geistes- und Kulturwissenschaften erhalten. Die Stiftung verleiht damit ihrer Anerkennung Ausdruck, dass sich Silke Braselmann mit ihrer Forschung in enorm ertragreicher, aussagekräftiger Weise einer drängenden Frage der Gegenwart gestellt und den Wirkungsweisen komplexer gesellschaftlicher Prozesse nachgespürt hat.

Pressemitteilung der Justus-Liebig-Universität Gießen

Mehr zum Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung

Die fiktionale Dimension von School Shootings

Die Analyse des komplexen Zusammenhangs zwischen brutalen empirischen Fakten und der kulturellen Imagination ist Silke Braselmann in ihrer Dissertation auf einem Feld gelungen, das man als paradigmatisch für die Hervorbringung des kulturellen Imaginären (Winfried Fluck) betrachten kann. Auf verschiedenen Ebenen zeichnet sie die fiktionale Dimension von School Shooting-Diskursen minutiös nach. Ihre zentrale Annahme ist, dass kulturell und individuell die Repräsentationen und Erzählungen von School Shootings nicht empirisch gesicherte Darstellungen solcher Gewaltexzesse sein können. Dies ergibt sich allein schon aus der Unmöglichkeit der direkten Beobachtung der (so gut wie stets männlichen) Täter, ihrer Taten und ihrer Motive. In jede Äußerung zu und Darstellung von School Shootings gehen daher stets die zuvor erzeugten diskursiven Darstellungen, kulturell verfügbare Imaginationen und kognitive Scripts ein, die allem vermeintlich Tatsächlichen eine fiktionale Dimension hinzufügen. Auf diese Weise ist diese wie unsere gesamte Wirklichkeit stets ebenso real wie imaginiert (real-and-imagined, wie Edward W. Soja sagte).

Jugendromane als Orte der kulturellen Verhandlung

Eine der Pionierleistungen Silke Braselmanns ist die Integration multimodaler Jugendromane in ihren Primärtextkorpus. An multimodalen Romanen wie Give a Boy a Gun (Todd Strasser, 2000), Shooter (Walter Dean Myers, 2004) oder Big Mouth & Ugly Girl (Joyce Carol Oates, 2002) gelingt ihr der Nachweis, dass diese literarischen Texte mit ihren verschiedenen semiotischen Modi, Narrativen, Erinnerungsfragmenten, Bildern und Selbstzeugnissen letztlich, ebenso wie jede juristische Fallrekonstruktion, ein Deutungs- und Konstruktionsangebot machen, aber keine Gewissheit zu erzeugen vermögen. Multimodale Jugendromane, so zeigt Silke Braselmann, nehmen kommunikative, soziale und journalistische Praktiken auf und spielen sie reflexiv in die Lebenswelt zurück. So stellen sich diese Jugendromane als sehr wirksame Formen der kulturellen Verhandlung der einschneidenden Gewalterfahrungen von School Shootings heraus. Mit diesem Nachweis verhilft Silke Braselmann gleichsam nebenher einer eher unterschätzten literarischen Gattung zu dem ihr gebührenden Platz im Repertoire kulturell formativer Kräfte.

Forschung als Ringen um Menschlichkeit

Als Betreuer eines solchen Promotionsprojektes (Zweitbetreuer war mein geschätzter Kollege Prof. Dr. Jörn Ahrens, Soziologie, JLU) ist man von Beginn an Zeuge und Begleiter des Ringens um ein angemessenes Verstehen, theoretische Modellierungen und die angemessene Sprache für das Unfassbare, mit dem einen die grausamen Taten junger Menschen über die gesamte Zeit der Arbeit am Projekt hinweg konfrontieren. Man kann ja die Augen nicht verschließen vor den Grausamkeiten, man kann nicht wegsehen, sondern muss sich, im Gegenteil, der Gewalt, den physischen und seelischen Verwüstungen, dem schockierend Unmenschlichen dieser jugendlichen Gewalttaten stellen. Bei solch einem Forschungsprojekt wird einem klar, dass literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung bedeuten kann, sich menschlichen Abgründen zu stellen und gerade dadurch für das Humane in einer Gesellschaft einzustehen. Silke Braselmann ist das auf unübertreffliche Weise gelungen.

Hier geht es zu einem aktuellen didaktischen Beitrag zu School Shootings im Zeitschriften-Blog Der fremdsprachliche Unterricht Englisch

Literatur

Braselmann, Silke (2017). Approaching the Inexplicable. The Fictional Dimension of the School Shooting Discourse. Diss. Justus-Liebig-Universität Gießen. — Braselmann, Silke & Ahrens, Jörn (Hrsg.) (2017). Vermittlungskulturen des Amoklaufs. Zur medialen Präsenz spektakulärer Gewalt. Wiesbaden. Springer.

 

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