Mehrsprachigkeit und Migrationsgesellschaft in der Schule

Ausgangspunkt meiner Überlegungen sind Beobachtungen zur fachbezogenen Lehrerausbildung an einer Berliner Universität (Englisch) sowie aktuelle Daten, die 2018 vom regionalen Amt für Statistik und der Berliner Senatsverwaltung für Bildung herausgegeben wurden. Danach wird zum einen die Studentenschaft immer heterogener, und zum anderen haben 32,5% der gut 3,7 Millionen Einwohner/innen Berlins einen Migrationshintergrund.

Migration und Mehrsprachigkeit in den Schulen

Letzteres wirkt sich auch auf die Schülerschaft aus, denn inzwischen haben 38,7% der Lernenden eine derartige Biografie. Hierbei sind die Unterschiede in den verschiedenen Schultypen bzw. in den einzelnen Bezirken des Stadtstaates erheblich. So gibt es an den Grundschulen 44,3% Schüler/innen nichtdeutscher Herkunftssprachen und an den Integrierten Sekundarschulen 40,6%, während es an den Gymnasien 26,3% und an den Privatschulen 23,3% sind (an den Freien Waldorfschulen sogar nur 6%). In den Bezirken Mitte und Neukölln haben im Schnitt über 67% der Schüler/innen einen Migrationshintergrund, demgegenüber der Anteil von Schüler/innen nichtdeutscher Herkunftssprachen in Treptow-Köpenick und Pankow auf etwas über 12% sinkt. Die übrigen Bezirke liegen in den Werten dazwischen.

Die europäische Sprachenpolitik

Die europäische Sprachenpolitik (vertreten vom Europarat in Straßburg) geht in ihren Dokumenten in erster Linie von der rezeptiven Interkomprehension aus (d.h. dem Hör- und Leseverstehen), indem sie die großen (und verwandten) indoeuropäischen Sprachfamilien fokussiert (also die Gruppe der germanischen, romanischen und slawischen Sprachen; vgl. die EuroCom-Projekte). Die Förderung der Herkunftssprachen wird vor allem den Familien bzw. dem sog. Konsulatsunterricht überlassen. Die Sprachenpolitik der Europäischen Union (= EU) ist zwar auf Mehrsprachigkeit angelegt, da jede/r EU-Bürger/in 1 + 2 Sprachen beherrschen sollte: die jeweilige Landes- oder Verkehrssprache plus die Herkunftssprache bzw. ein oder zwei Fremdsprachen. Sie negiert jedoch bisher die vom Sprachtypus der flektierten europäischen Sprachen (die in unterschiedlichem Maß eine Konjugation und Deklination kennen) abweichenden außereuropäischen Sprachen. Dies betrifft insbesondere die agglutinierenden Sprachen, aber auch die sog. Tonsprachen.

Der ungebrochene monolinguale Habitus

Schüler/innen mit diesen Herkunftssprachen sitzen in den Berliner Klassen; sprich, die Lerngruppen werden zunehmend heterogener (in sprachlicher, kultureller und religiöser Hinsicht), aber ihre Erstsprachen (und damit ihre Identitäten) werden nicht gebührend gewürdigt. Allerdings kann keine Lehrkraft die in Berlin existierenden 200 Sprachen kennen, geschweige denn fließend sprechen oder schreiben. Hinzu kommt, dass weder in der Lehrerausbildung noch in den Lehrerzimmern die verhärteten Denkweisen vom ethnisch ausgelegten Nationalstaat in Bezug auf die Sprachenpolitik und eine transnationale Realität hinreichend angepasst sind. In beiden herrscht der „monolinguale Habitus“ vor (Gogolin 1994)  – mit dem Ergebnis, dass in aller Regel auch die (europäischen!) Fremdsprachen in dieser Weise unterrichtet werden: in weitgehender Abgrenzung voneinander.

Die Ausbildung der Sprachlehrer/innen

Daraus ergeben sich m.E. die folgenden Forderungen: Nach meinem Dafürhalten ist mit Nachdruck zu fordern, dass alle Lehramtsstudierenden in ihrer Ausbildung (das betrifft vor allem die linguistischen Abteilungen) mit den Grundprinzipien des Baus verschiedener Sprachtypen vertraut gemacht werden müssen, einschließlich der Hauptmerkmale des jeweiligen Schriftsystems. Gewiss, das appelliert an die Sprachbewusstheit, aber dieser Aspekt sollte im Lehramtsstudium und im Berufsalltag nicht ausgeschlossen werden. Vielleicht finden wir ferner einen Weg, kompetente Lehrpersonen oder Lehramtskandidaten mit einer anders strukturierten Herkunftssprache insbesondere im Fremdsprachenunterricht einer Schule einzusetzen. Meine Schlussfolgerung: Eine Migrationsgesellschaft muss ihr Bildungssystem der Mehrsprachigkeit einer inzwischen global vernetzten Welt im Sprachencurriculum sinnvoll öffnen.

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