Literatur: Wissenschaft und Didaktik interdisziplinär

An fast allen deutschen Universitäten sind die Lehramtsstudiengänge in den jeweiligen Sprachen entlang der literatur- und sprachwissenschaftlichen Disziplinen und ihrer Didaktiken sowie der sprachpraktischen Ausbildung organisiert. Diese Struktur führt zu Fragen der interdisziplinären Korrespondenz, Koordination und gegenseitigen Bezugnahme zwischen all diesen (Teil-) Disziplinen, sogar innerhalb des gleichen Instituts. Der potenzielle Verlust an Kohärenz zwischen den verschiedenen Zweigen eines Studiengangs stellt die universitäre Lehre, die Lehrenden und die Studierenden gleichermaßen vor erhebliche Herausforderungen.

Interdisziplinarität in der Lehrer/innenbildung

Nun hat sich eine Reihe von Konferenzen dieses Themas angenommen:

  • Perspektiven der Romanistischen Fachdidaktik 2015 in Salzburg
  • ein Symposium unter dem Titel Kohärenz und Korrespondenz in der universitären Englischlehrerbildung, im Frühjahr 2017 organisiert von Prof. Dr. Bärbel Diehr
  • eine Sektion des Romanistentags in Zürich 2017 unter dem Titel Literatur vermitteln?
  • die Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts 2018 auf Schloss Rauischholzhausen.

Letzte Woche diskutierte die interdisziplinäre Tagung

  • Kontrovers. Literaturdidaktik meets Literaturwissenschaft in Bremen (organisiert von Prof. Dr. Andreas Grünewald, Maike Hethey und Dr. Karen Struve)

Strategien dafür, wie die Theorien und das disziplinäre Wissen der Sprachdidaktiken und der Literaturwissenschaften in den verschiedenen Philologien mit den entsprechenden Ansätzen in den jeweils anderen (Teil-) Disziplinen und Philologien verknüpft werden kann.

Reflexive Strategien

Sofern überhaupt allgemeine Schlussfolgerungen nach der Bremer Tagung zur Literaturvermittlung erlaubt sind, dann ist es die allgemeine Einsicht in die Notwendigkeit einer reflexiven Praxis interdisziplinärer Forschung und interdisziplinärer Strategien im universitären Literaturunterricht. Die Säulen der Etablierung solcher interdisziplinärer Querbezüge zwischen den Literaturwissenschaften und der Literaturdidaktik könnten die folgenden sein:

1 Das theoriebasierte Studium von Literatur: Wie Ellen Grünkemeier, Dagmar Stöfele und Jürgen Wehrmann in Bremen zeigten, statten theoretisch fundierte Zugänge zur Literatur die Studierenden nicht nur mit einem Repertoire der systematischen Lektüre literarischer Texte aus; vielmehr erlauben sie auch die Einsicht in die Relativität von Interpretationen und deren Abhängigkeit von den jeweils unterliegenden (oft subjektiven) Theorien. Auch weisen theoriebasierte Zugänge eine emanzipatorische Dimension auf, weil sie zukünftigen Lehrer/innen eigenständige kritische Urteile zu Interpretationen erlauben, die ihnen in Lehrwerken, Curricula, Schulausgaben oder Modellinterpretationen angeboten werden.

2  Interdisziplinärer Dialog und interdisziplinäre Forschung: Die Bremer Tagung lieferte reichlich Nachweise dafür, dass es gegenwärtig einerseits an interdisziplinärer Aufmerksamkeit zwischen den Philologien und Didaktiken hinsichtlich ihrer theoretischen Fundierungen und Ansätze mangelt, und dass andererseits interdisziplinäre Zusammenarbeit und Forschung ein großes Potenzial für Forschung und Lehre bergen. Viele gegenwärtige Entwicklungen in den Fremdsprachendidaktiken verdanken sich Konzepten und Ansätzen in den Kulturwissenschaften im weitesten Sinne. Wie der Autor dieses Blogs in seiner Keynote zu zeigen versuchte, könnten aber auch die Literaturwissenschaften durchaus von einer Öffnung zu neuen Ansätzen im Feld der Literaturdidaktiken profitieren, sei es der Zugang zu neueren und populären literarästhetischen Formen (wie digitale Kurzvideos, Fan Comics oder Arten von Autobiographie) oder die Bandbreite von Sprachen und Praktiken der Signifikation, die junge Menschen im Alltag benutzen und die eine Vielzahl von Literalitäten jenseits der Wortsprache erfordern.

3 Literaturwissenschaftliche Methoden wie close reading als Analysemethode, wide reading als Methode der Kontextualisierung oder die systematische Identifikation von intermedialen Bezügen im Roman (von Benjamin Inal in einer Fallstudie vorgestellt) statten die Lernenden in der Schule und die Studierenden an der Universität mit methodischen Werkzeugen aus, die ein hohes Transferpotenzial über den jeweils untersuchten Einzeltext hinaus aufweisen. Methoden und Methodologien können als interdisziplinäre Brücken zwischen den Philologien und den Literaturdidaktiken sowie zwischen den Einzelphilologien und -sprachen dienen.

4 Literatur als kulturelles Handlungsfeld: Ein wunderbarer Abend mit Iris Radisch, Leiterin des Feuilletons der Zeit und Expertin in der französischen Nachkriegsliteratur und -philosophie, ermöglichte den Tagungsteilnehmer/innen und einem größeren öffentlichen Publikum die Erfahrung, dass und in welcher Weise Literatur auch als wichtiges Feld kulturellen Handelns betrachtet werden kann und muss. Aus diesem Grund betonte Carola Surkamp in ihrem Vortrag zur digitalen Literatur und zu literarischen Praktiken das Bildungsziel, Lehramtsstudierende und junge Menschen mit einer Diskursfähigkeit auszustatten, die es ihnen ermöglicht, am literarischen Feld teilzuhaben und aktiv eigene literarische Texte, Filme oder andere, ggf. innovative ästhetische Artefakte dazu beizusteuern.

Interdisziplinäre Bewusstheit

Die Serie von Tagungen (und die zugehörigen Publikationen) liefert gute Gründe für die Hoffnung, dass sich eine neue, reflexive und kritische interdisziplinäre Bewusstheit entwickelt, die zu neuen Formen des Dialogs, der Zusammenarbeit und interdisziplinärer Forschung und Lehre führen kann. Der Literaturunterricht an Hochschule und Schule kann dabei nur gewinnen.

Mehr zur Bremer Tagung und zur Sektion „Literatur vermitteln?“ des Romanistentags 2017

Ein Kommentar

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  • Vielen Dank für diese perspektivenreiche Zusammenfassung, nachdem Sie schon in Ihrem Vortrag in Bremen uns einen ungeheuer hilfreichen Überblick über das Diskussionsfeld gegeben haben! Ich kann Ihnen bei der Einschätzung der Bedeutung solcher Initiativen nur zustimmen. Wichtig für mich war auch gerade Ihre Feststellung, dass sich nicht nur Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft in einer komplexen Zweierbeziehung befinden, sondern tatsächlich Teile eines weit gespannten disziplinären Netzwerks bilden. Großartig an der Tagung war die Breite: Man bekam einen Einblick in ganz verschiedene Praktiken, die zwischen Literatur und Gesellschaft vermitteln, wie Universität, Literaturkritik, Schule, Bibliothek, Literaturtourismus und Literaturmuseum. Insofern war es nicht nur ein interdisziplinärer Dialog, sondern auch ein interinstitutioneller oder interdiskursiver. Deshalb wäre vielleicht bei zukünftigen Initiativen dieser Art zu bedenken, wie man der Diskussion, dem eigentlichen Dialog durch andere Formate als ausschließlich Vorträge mehr Raum geben könnte. Die große Herausforderung bei einem solchen Dialog ist es, verschiedene Sprachen zuzulassen, Gleichrangigkeit zwischen den Gesprächspartnern herzustellen und einander zuzuhören: Der Dialog zwischen Theorie und Praxis kann sich nicht nur im akademischen Diskurs vollziehen, sonst ist es keiner. Werner Delanoy hat ja dazu interessante Überlegungen angestellt, die immer noch viel Potenzial bieten.

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