Was heißt mehrsprachige Bildung?

Anders als in früheren Zeiten, als das Ideal des Fremdsprachenlernens die Imitation des native speaker war, sind die Lernenden heute in ihrer Lebenswelt stets von einer Vielzahl von Sprachen umgeben. Das Englische ist sogar beinahe Teil der natürlichen Sprachumgebung und, zumindest im Internet, eine globale Standardsprache der Alltagskommunikation geworden, auch und gerade für jungen Menschen. Aber auch viele andere Kommunikationssituationen bringen immer wieder die Notwendigkeit mit sich, mal in formeller, mal in eher persönlicher Weise in einer fremden Sprache zu kommunizieren und über sich Auskunft zu geben.

Die Zirkulation fremdsprachiger Selbsterzählungen oder Selbstauskünfte

In vielen lebensweltlichen (oft medialen) Kontexten begegnen wir heute fremdsprachigen Lebensentwürfen, Biographien, Erfahrungen oder Denk- und Vorstellungsweisen. Hier spielen Texte und Bilder aus fremdsprachigen sozialen und populären Kulturen oder Darstellungen von life styles mit ihrer globalen Zirkulation eine besondere Rolle. Oft genug schreiben und fügen die Lernenden Erzählungen und Identitäten anderer, fremdsprachiger Menschen in ihre eigenen Lebensentwürfe ein; ihre Identitäten pluralisieren sich sprachlich und kulturell.

Erfahrungen in fremden Sprachen: symbolic power

Dazu gehört die im Sinne des Mehrsprachigkeitslernens wichtige, für die jungen Menschen oft neue, spannende Erkenntnis, dass Erfahrungen auch in der Fremdsprache sagbar oder erzählbar sind und dass das Selbst gerade dadurch eine neue Identität als multilingual subject im Sinne Kramschs (2010: 201) ausbildet,

having the choice of belonging to different communities of sign users, resonating to events differently when expressed through different semiotic systems, positioning oneself differently in different languages, and ultimately having the words to reflect upon this experience and to cast it into an appropriate symbolic form.

Die jungen Menschen lernen die fremde Sprache also als eine symbolische Form kennen, die sie mit zuvor unbekannten Möglichkeiten des Sprechens und Erzählens ausstattet, einer neuen symbolic power, wie Claire Kramsch (2010: 13f.) sagt. Sie erfahren sich selbst als Menschen, die auch in einer anderen Sprache leben und die zum Leben der Menschen anderer Sprache etwas beizutragen haben, ja sogar deren Sprache und Zeichenwelt in produktiver und kreative Weise bereichern können (Kramsch 2010: 7).

Die affektive Dimension des Sprachlernens

Der Fremdsprachenunterricht ist daher nicht nur unmittelbar an der Konstitution transkultureller Identitäten beteiligt, sondern er ermöglicht es den Lernenden auf diese Weise auch, ein ganz anderes, nicht-funktionales, eher affektives Verhältnis zu fremden Sprache zu gewinnen:

Beyond information, they trigger emotions and shape feelings that exceed their informational value. In so doing, they shape the meaning we give to ourselves, as makers and users of signs. (Kramsch 2010: 40)

Das Ziel der fremdsprachigen Diskursfähigkeit erfährt so eine besondere personale und persönlichkeitsrelevante Ausformung: Die Lernenden können sich als Individuen erfahren, die in mehreren Sprachen und in einer Sprache ihrer Wahl anderen etwas über sich selbst zu sagen haben.

Die Bildung mehrsprachiger Persönlichkeiten

Der Bundeswettbewerb Fremdsprachen möchte mit seiner Auftakttaufgabe in der ersten Runde dieser persönlichkeitsbildenden und welterschließenden Kraft anderer Sprachen zu mehr Sichtbarkeit verhelfen. Die Aufgabe lautet, in einem Kurzvideo eine reale, historische oder auch fiktionale Person vorzustellen, die für den oder die teilnehmende/n Schüler/in eine besondere Bedeutung besitzt, ein Vorbild ist oder, wie Constanza Vera-Fluixá in ihrem spanischsprachigen Video zu Frieda Kahlo sagt, ‚eine Inspiration‘ ist. Constanzas großartiges Video zeigt auf beeindruckende Weise, dass die von ihr gewählte Künstlerin als Persönlichkeit ihr nicht äußerlich bleibt: Nicht nur ist diese die (fiktive) Adressatin eines persönlichen Briefes in spanischer Sprache, sondern während sie ihren Brief schreibt, verwandelt sich Constanza in eben diese von ihr bewunderte Künstlerin. So ist das fremdsprachige Video selbst ein Kunstwerk, das der jungen Video-Autorin zu einer neuen symbolischen und sprachlichen Ausdrucksform verholfen hat.

Literatur: Claire Kramsch (2010). The Multilingual Subject. What Foreign Language Learners Say about Their Experience and Why It Matters Matters. Oxford: Oxford University Press.

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