Zeitgenosse Hamlet? Shakespeare im 21. Jahrhundert

Bis heute hält sich hartnäckig die Ansicht, dass Shakespeares Dramen Universalismen von überzeitlicher Gültigkeit (Liebe, Hass, Feindschaft, Tod) verhandeln. Regelmäßig muss diese Annahme als Begründung dafür herhalten, dass Shakespeare „auch heute noch aktuell“ ist. Erstaunlich! Shakespeares Äußerungen über die Welt – die seiner Figuren – sind 2016, im Jahr seines runden Todestags, 400 Jahre alt.

Bildnis ShakespeareDie gesellschaftliche und staatliche Ordnung, auf die sie sich beziehen, ist längst verschwunden. Die kulturellen Vorstellungen, von der diese geprägt sind – Staat, Herrschaft, Familie, Geschlecht – sind längst überwunden. Und schließlich: Die Vorstellung von der gottgewollten Ordnung der Welt, die als Legitimation für eine tyrannische, absolute Herrschaft eines Monarchen herhalten musste, ist in einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft schlicht unhaltbar – so sehr das angeblich Gottgewollte gerade beängstigende Urstände in anderem Gewand feiert.

Wie ist der Zugang zu den historischen Gegebenheiten in den Shakespeare-Stücken möglich?

Aus den genannten Gründen verbietet sich ein direkter, diese historische Distanz und Differenz überspringender Zugang zu Shakespeare. Shakespeares Familiensinn, die Vorstellungen von Macht, Herrschaft und Gewalt in seinen Stücken, von Liebe und von der Stellung des Individuums sind mit denen des 21. Jahrhunderts, jedenfalls in westlichen, offenen, aufgeklärten Gesellschaften, schlicht nicht kompatibel. Gerade hier erkennt man schon die Fragerichtung: Wie verhalten sich Shakespeares Entwürfe vom Menschen und seinem Platz in der Welt eigentlich zu unseren eigenen im 21. Jahrhundert?

Die Studierenden in meinem Shakespeare-Seminar (2016), zukünftige Englischlehrer und -lehrerinnen, haben diese offene, schwierige Frage bearbeitet. Dies waren die Fragestellungen:

  • Living in the 21st century, what is it that connects us with Shakespeare?
  • What concerns do we share with his plays?
  • Where and in what ways do we ourselves, and our students in the classroom, recognize ourselves and our age in his plays?

Erkenntnisse

Bei genauem Hinsehen erkennt man, dass es sich hier im Kern um eine bildungstheoretische und didaktische Frage par excellence handelt, die sich in der simplen Frage „Why Shakespeare?“ in der Diskussion von Hamlet kondensieren lässt. Dies sind die von mir protokollierten und mit den Studierenden besprochenen Diagnosen der Studierenden. In Shakespeares Hamlet lesen und sehen wir

  • an established, fixed world order and social orders (‘chain of being’) in the early modern age, vs. postmodern plurality, openness and dynamics of orientations in the 21st century
  • how individuals identify and define their position in a system
  • how the individual makes use of spaces and options to act vis-à-vis or against systems and established orders (agency)
  • how the inward self differs from the presented self, and how this constitutes the psychology of the human being
  • how staging the selves and their actions constitutes ‘the world as stage’ and theatricality, as in the 21st century

Thematisch ist Hamlet im Kern mit dem Zusammenbruch althergebrachter Ordnungen und ihrer ethischen Grundlagen befasst. Die zentrale Metapher, in die Shakespeare die zur Disposition stehende mittelalterliche Denkweise von der unausweichlichen Determiniertheit menschlichen Lebens durch eine vorgegebene göttliche Ordnung gießt, ist die Theaterbühne selbst.

Die Theatralität der Alltagswelt

Dies führt ihn zu fundamentalen erkenntniskritischen Fragestellungen: Wenn die Wirklichkeit als Theater aufgefasst wird, was können wir dann überhaupt noch zuverlässig über sie wissen? Diese Fragen nach der Inszeniertheit der Wirklichkeit, der Theatralität der Alltagswelt und der Möglichkeit des zuverlässigen Wissens machen Hamlet daher zu einem Glücksfall für den fremdsprachlichen Literaturunterricht.

Fast alle Stücke Shakespeares ermöglichen den Schülerinnen und Schülern die Erfahrung des Script-Charakters der Wirklichkeit, der Mechanismen von Inszenierungen und der performativen Wirkungen der eigenen verbalen und körperlichen Ausdrucksweisen. Die Schüler und Schülerinnen erleben sich lesend und spielend als kulturelle Akteure, die mit ihrem Spiel und ihrem Handeln Wirklichkeiten in ihrer Gültigkeit zu befragen und selbst zu erzeugen vermögen.

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