Digitalität: Kultur und fremdsprachliche Bildung

Nun – endlich – ist die Digitalisierung des Unterrichts und der Schule nicht mehr nur eine Angelegenheit der Grundsatzerklärungen und der bildungspolitischen Verlautbarungen. Die Pandemie hat uns gezwungen, den Unterrichtsalltag zu digitalisieren. Nun endlich wird sehr konkret und praktisch über Endgeräte, video tools und Lernplattformen gesprochen, aber endlich auch über deren Administration, Wartung und Finanzierung. So sehr das alles aus der Not geboren ist, so begrüßenswert ist es, dass endlich konkrete Schritte unternommen werden, die seit 20 oder mehr Jahren überfällig sind.

Digitalität der Kultur

Allerdings verharrt der didaktische Diskurs im Wesentlichen auf der Ebene der Technologien und Gerätschaften. Das nährt den Verdacht, dass die kulturelle Wirkmächtigkeit der Digitalisierung nicht wirklich verstanden ist. Dagegen steht die These, dass die Digitalisierung alle Bereiche des kulturellen Lebens und alle gesellschaftlichen Sphären durchdringt und im Grunde unsere Kultur insgesamt erfasst und transformiert hat. Felix Stalder (2016) spricht aus diesem Grund von der ‚Digitalität der Kultur‘. Eines ihrer zentralen Kennzeichen ist für Stalder die ‚Vervielfältigung der kulturellen Möglichkeiten‘ (S. 10):

„Immer mehr Menschen beteiligen sich an kulturellen Prozessen, immer weitere Dimensionen der Existenz werden zu Feldern kultureller Auseinandersetzungen, und soziales Handeln wird in zunehmend komplexe Technologien eingebettet, ohne die diese Prozesse kaum zu denken und schon gar nicht zu bewerkstelligen wären. Die Anzahl konkurrierender kultureller Projekte, Werke, Referenzpunkte und -systeme steigt rasant an, was wiederum eine sich zuspitzende Krise der etablierten Formen und Institutionen der Kultur ausgelöst hat, die nicht darauf ausgerichtet sind, mit dieser Flut an Bedeutungsansprüchen umzugehen.“ (S. 11)

Der Bildungsauftrag

Der Bildungsauftrag zur Entwicklung einer digitalen Diskursfähigkeit bezieht sich daher zunächst einmal gar nicht unbedingt auf die Handhabung digitaler Technologien, sondern vielmehr auf die Fähigkeit, sich in den ungeheuer vielfältigen kulturellen Angeboten und multiplizierten sozialen Kontexten zu orientieren, sich darin zu positionieren und angemessen sowie zielorientiert zu kommunizieren. Darauf muss der fremdsprachliche Text- und Kommunikationsunterricht sich einstellen: sich orientieren im Diskurs, mit Text- und Bildmengen umgehen, Positionen im Diskurs erkennen und seine eigene darin bestimmen, eine diskursbezogene Äußerungsfähigkeit entwickeln – offline und online.

Digitale kulturelle Tiefenstrukturen

Stalder hebt aber zu Recht auch darauf ab, dass das Vordringen digitaler Technologien, Apparate und Anwendungen (‚Apps‘) gewissermaßen die Tiefenstrukturen des gesellschaftlichen, des sozialen und des individuellen Denkens und Handelns verändert. Er arbeitet diesen Prozess an drei zentralen ‚Formen der Digitalität‘ heraus, die unser kulturelles Denken und Handeln leiten.

Referenzialität

Damit bezeichnet Stalder den Referenzrahmen, den wir benötigen (erkennen oder konstruieren), um uns „in kulturelle Prozesse ein[zu]schreiben und als Produzenten konstituieren [zu] können.“ (S. 95) Die Herstellung von Bezügen ist „eine, wenn nicht die grundlegende Methode, mit der Menschen – alleine und in Gruppen – an der kollektiven Verhandlung von Bedeutung teilnehmen.“ (S. 96) In die Ziele der sprachlichen Bildung übersetzt: Diskursfähig zu sein bedeutet, Diskurse als themenzentrierte Prozesse der Bedeutungsaushandlung identifizieren zu können und zu erkennen, in welcher Weise man daran mit eigenen Beiträgen aktiv teilhaben möchte.

Gemeinschaftlichkeit

Es ist unübersehbar, dass die Digitalisierung aller Lebensbereiche neue „Formen der Gemeinschaftlichkeit hervorgebracht, die sich in den Verästelungen des vernetzten Lebens entwickeln.“ (S. 134) Austausch und Kommunikation innerhalb definierter Praxis-Felder (Video Games, Sport, politische Bewegungen) sind für die Konstituierung und Erhaltung solcher communities zentral: „Der Einzelne muss viel und kontinuierlich kommunizieren, um sich innerhalb der Felder und Praktiken zu konstituieren, sonst bleibt er unsichtbar.“ (S. 137) Diskursfähigkeit ist daher eine unabdingbare Voraussetzung dieser (de-institutionalisierten) Form der Sozialität. Und: „Die dazu notwendige Masse an Tweets, Updates, E-Mails, Blogs, geteilten Bildern, Texten, Einträgen auf kollaborativen Plattformen, Datenbanken und so weiter kann nur mithilfe von digitalen Technologien produziert und prozessiert werden.“ (S. 137)

Algorithmizität

Algorithmen sind sozusagen die maschinenbasierten Verfahren zur Herstellung von Ordnungen und Wertigkeiten in uns ansonsten nicht zugänglichen riesigen Datenmengen (wie sie z.B. Suchmaschinen zum Auffinden von Webseiten benutzen; Big Data). Sie machen für uns erst auffindbar und verwertbar, was sich in unermesslich großen Datennetzen verbirgt, und übersetzen sie „in jene Formate […], die Menschen verstehen können (Small Data).“ (S.96) Algorithmen sind also die Voraussetzung für die Teilhabe an der „auf digitale Technologien aufbauenden Kultur.“ (S. 96) Zugleich sind diese Algorithmen hochgradig problematisch, weil sie machtbasiert (Google, Amazon), hierarchisierend und wertend sind, „indem sie die (informationelle) Welt vorsortieren“ (S. 96) Anders gesagt: Algorithmen sind kulturformativ.

Selbstbestimmtheit im Angesicht der Algorithmen

Was den Bildungsauftrag der Schule und des Fremdsprachenunterricht betrifft, tut sich hier das weiteste und am schwierigsten zu bearbeitende Feld auf. Es lässt sich in die Frage fassen, wie Individuen gegenüber diesen omnipräsenten, extrem wirksamen maschinenbasierten Verfahren und (politischen, kommerziellen, sozialen) Handlungssteuerungen ein Maß an Selbstbestimmtheit bewahren können; eine Art der Selbstkontrolle, die für wirkliche kulturelle Teilhabe unabdingbar ist. Allemal muss die kontinuierliche Reflexion darüber zum festen Bestandteil schulischer Bildung werden.

Kulturwissenschaftliche Fundierung der Bildung

Stalders kulturwissenschaftliche Theorie der Digitalität ist nur einer von vielen Ansätzen, die uns helfen, die wahre Natur der Digitalisierung zu begreifen. Wir sind auf solche kulturwissenschaftliche Erkenntnisse und Erklärungsmodelle angewiesen, damit wir in den Fächern der sprachlichen Bildung nicht zu kurz springen: Digitalisierung, so sollte man erkennen, lässt sich nicht (nur) auf der Ebene der passenden Endgeräte und der neuesten Edu Apps verhandeln und bearbeiten. Vielmehr müssen wir verstehen, wie die Digitalisierung die Lebenswelt der jungen Menschen durchdringt, deren Lernprozesse wir anregen und befördern wollen. Wenn wir ihre digitalen nicht zugleich als kulturelle, soziale und kommunikative Praktiken und als kognitive Prägungen begreifen, bleiben ‚Lernenden- und Lebensweltorientierung‘ didaktische Worthülsen.

Zum Weiterlesen: Felix Stalder (2016). Digitalität der Kultur. Frankfurt/Main: Suhrkamp. | Vom Autor: (2002) Fremdsprachenunterricht als Spiel der Texte und Kulturen. Intertextualität als Paradigma einer kulturwissenschaftlichen Didaktik. Trier: WVT. | (2011). How to do things with media. Die Performativität medialer Nutzungsakte. In: Barbara Schmenk & Nicola Würffel (Hrsg.). Drei Schritte vor und manchmal auch sechs zurück. Internationale Perspektiven auf Entwicklungslinien im Bereich Deutsch als Fremdsprache. Tübingen: Narr. 231-243.| (2020). Die Digitalisierung der fremdsprachigen Diskursfähigkeit. In: Maria Eisenmann (Hrsg.). Sprachen, Kulturen Identitäten: Umbrüche durch Digitalisierung. Baltmannsweiler: Schneider-Hohengehren. 187-198. 

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