Lebenswelten erforschen

Das kulturelle Wissen der Lehrenden von der Lebenswelt der Lernenden ist ein Dreh- und Angelpunkt aller pädagogischen Anstrengungen in der schulischen Bildung und ihrer bildungstheoretischen Grundlegung. Diese Setzung findet sich in kondensierter Form im etablierten Prinzip der Lernendenorientierung. Auch viele andere Konzepte wie das der Differenzierung, der Adaptivität oder der Individualisierung des Unterrichts kommen nicht ohne dieses Prinzip aus.

Lernendenorientierung

Die entscheidende Frage ist dann immer, auf welchen Wegen Lehrer/innen überhaupt Wissen über ihre Lernenden, ihre Vorkenntnisse, ihre Interessen, ihre Talente und Begabungen, ganz generell: über ihre Persönlichkeiten erlangen können. Außer den individuellen Dispositionen bestimmen aber auch die Herkunft und viele andere lebensweltliche Bezugsgrößen das schulische Lernen. Für eine substanzielle Lernendenorientierung sind Kenntnisse über die soziale Situierung und das Bildungsinteresse des Elternhauses maßgeblich, aber auch über zahlreiche andere Faktoren: religiöse und weltanschauliche Orientierungen, damit verbundene ethische, soziale und kulturelle Normen (heute oft individualisiert), Lebensstile (life styles) und subkulturelle Zugehörigkeiten (mit ihren eigenen, von außen schwer durchschaubaren Denk-, Lebens- und Sprechweisen).

Kommunikative Praktiken

Darüber hinaus aber sind gerade in einem auf Kommunikation zielenden Unterricht die sozialen, kommunikativen und medialen Praktiken von großem Interesse, die das Alltagsleben der jungen Menschen bestimmen und auf die sie das zu Lernende und das Gelernte stets beziehen. Inhalte und Verfahren, die all dies unberücksichtigt lassen, laufen Gefahr, nicht zu aktiven Lernen zu führen und gewissermaßen an den Lernenden ‚vorbei‘ zu unterrichten.

Lebenswelten-Forschung

Ausgeprägte kulturelle Dynamiken und die Individualität der oben gennannten Faktoren verdeutlichen, dass Lehrerinnen und Lehrer über die Fähigkeit verfügen müssen, Gesellschaften und Lebenswelten selbst zu studieren und sich auf diese Weise kulturelles Wissen beständig neu anzueignen. Eine solche konkrete Erforschung von Lebenswelten, sowohl der eigenen als auch der fremdsprachigen, ist auf ethnographische Verfahren angewiesen. Denn nur durch eine wissenschaftliche und methodische Fundierung kann man zu systematischeren (vs. rein intuitiven) Beschreibungen und Erklärungen gelangen. Nur so sind ein tieferes kulturelles Verstehen und eine kritische Reflexion möglich.

Forschende Haltung und Praxis

Außer durch die Heranziehung wissenschaftlicher Schriften wie etwa soziologischer oder empirischer Studien (z.B. der Shell-Studie oder, soeben vorgestellt, der OECD-Sonderbericht 21st Century Readers zur PISA-Studie 2018) bedarf es auf Seiten der Lehrer/innen auch einer eigenen forschenden Haltung und Praxis. Eine solche reicht von der gezielten Beobachtung lebensweltlicher Orientierungen und Praktiken junger Menschen über das Studium von Dokumenten und Daten aller Art (z.B. auf populären Video- oder social media-Plattformen) bis zur gezielten Erforschung einzelner Phänomene mit klassischen Instrumenten der Ethnographie: field notes, Interviews und Umfragen sind die geläufigsten.

Partizipative Forschung mit Lernenden

Damit eine solche ‚Beforschung‘ und die Erforschung ihrer Lebenswelten nicht zum spying und zum unbotmäßigen Überschreiten von Persönlichkeitsgrenzen führt, vom Datenschutz ganz zu schweigen, ist es geboten, eine solche lebensweltliche Forschung inklusive der Forschungsfragen gemeinsam mit den Schüler/innen zu entwerfen und durchzuführen. Auf diese Weise können die Lernenden selbst Sorge tragen, dass die Erforschung von ihrem persönlichen Raum distanziert, anonymisiert und dadurch auch besser verallgemeinerbar wird. Wenn z.B. das Konsum-, das Medien- oder das Energieverhalten in einer ganzen Altersgruppe (an der Schule und darüber hinaus in online communities) und einer größeren Stichprobe erhoben wird, ist die Chance selbst nach wissenschaftlichen Maßstäben groß, valide, verallgemeinerbare, mindestens aber intersubjektiv nachvollziehbare Erkenntnisse zu erlangen.

Wissenserzeugung statt Wissensvermittlung

Schulische Bildung verweilt damit nicht bloß auf der Ebene der Wissensvermittlung, sondern die jungen Menschen werden zu einer forschenden Haltung ihrer Umwelt gegenüber erzogen und in die Lage versetzt, selbst relevantes Wissen zu generieren. Auch der fremdsprachliche Kulturunterricht wird auf diese Weise von einem Ort der Kulturvermittlung zu einem Ort der aktiven Exploration von Kulturen und Lebenswelten. Denn was über die Lebenswelten der Lernenden gesagt wurde, gilt natürlich – abgesehen vom fehlenden direkten Zugang – auch für die Erforschung fremdsprachiger Kulturen. Ein solches explorativ-forschendes Verfahren nimmt eigentlich nur Wahrnehmungsinteressen, Fragen und Interessen auf, die kulturelle Akteur/innen in ihrem Alltag auch stellen – wann immer es etwas zu verstehen, zu entdecken oder zu erklären gibt. Daniela Caspari verweist im Handbuch Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik (2016) daher zu Recht darauf, dass es „in der Natur des Menschen zu liegen [scheint], Phänomenen in seiner Umwelt auf den Grund zu gehen, nach Gesetzmäßigkeiten zu suchen sowie auf der Basis von Beobachtungen und Erfahrungen Theorien aufzustellen und Vorhersagen zu machen.“ (S. 7) Natürlich gibt es wichtige Unterschiede, vor allem in der Zielsetzung und den Methoden. Aber die Neugier und die Suche nach Erklärungen, Gesetzmäßigkeiten und Theorien sind genau die Antriebe, die den Lernenden wie ihren Lehrer/innen ein exploratives, forschendes Vorgehen im Unterricht ermöglichen.

Literatur: Caspari, Daniela, Klippel, Friederike, Legutke, Michael K. & Schramm, Karen (Hrsg.) (2016). Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik. Ein Handbuch. Tübingen: Narr.

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