Begabungsförderung und Unterrichtsentwicklung mit komplexen Aufgaben

Seit der nationale Forschungsverbund „Leistung macht Schule“ im Jahr 2018 seine Arbeit aufgenommen hat, arbeiten wir im Teilprojekt Englisch mit Englischlehrer/innen-Teams an 18 Schulen zusammen. Mit ihnen erproben wir, ob und in welcher Weise komplexe Aufgaben dazu dienen können, aufgrund des Herausforderungsreichtums, der selbstständigen Arbeitsweise der Schüler/innen und der ergebnisoffenen, wenngleich zielgenauen und auf Problemlösung gerichteten Aufgabe Begabungen der jungen Menschen zu erkennen, zu fördern oder aber überhaupt einmal sichtbar zu machen. Natürlich liegen diesem Ansatz zahlreiche Annahmen über das Funktionieren des Aufgabenansatzes zugrunde, zu denen es eine ganze Didaktikgeschichte und eine Forschung gibt. Aber die wichtigsten Merkmale, die zu diesen Annahmen über das begabungsfördernde Potenzial von komplexen Aufgaben, lassen sich kurz wie folgt skizzieren.

Herausforderungsreichtum

Komplexe Aufgaben sind herausforderungsreich und erfordern die Aktivierung aller individuell verfügbaren Kompetenzen zur erfolgreichen Aufgabenbearbeitung. Da diese individuell verschieden sind und weit über das sprachliche Können im engeren Sinne hinausreichen, können zahlreichen Seiten einer Persönlichkeit sichtbar werden, die in anderen, engführenden Aufgaben oder Übungen gar nicht angesprochen werden.

Selbständigkeit
Ein teen magazine zu ‚My idol‘ als Aufgabenprodukt

Die Orientierung auf ein Zielprodukt oder eine Problemlösung (also z.B. die Gestaltung einer fremdsprachigen Interaktionssituation oder eines Textes) verlangt von den Lernenden immer ein hohes Maß an Selbständigkeit der Entscheidung über die Arbeitsschritte, die inhaltliche Füllung (im Sinne einer bestmöglichen Lösung) und die Gestaltung des Zielproduktes. Auf diese Weise können beispielsweise die Fähigkeit zur kognitiven und sprachlich-diskursiven Strukturierung der Arbeit und des Zielproduktes sichtbar gemacht werden. So kommt es, dass wir, mehr oder weniger überraschend, ein ausgeprägtes Interesse der jungen Menschen an ästhetisch ansprechenden Designs ihrer Zielprodukte bemerkten, das nicht selten mit einer aufwändigen, nicht erwartbaren zeitlichen Investition verbunden war, z.B. beim Layout und beim Design einer Magazinseite, beim (nicht verlangten) Bau eines kompletten 3D-Modells eines dream house oder beim (verlangten) Bau eines dream classroom in a box, bei der Gestaltung eines autobiografischen Comics oder eines blog post und bei vielen anderen Zielprodukten mehr.

Differenzierung

Komplexe Aufgaben wirken differenzierend. Aufgrund ihrer Offenheit und Zielorientierung eröffnen sie einen Arbeits- und Gestaltungsraum, der individuell verschieden genutzt werden kann und wird. Mein Mathematik-Kollege im Forschungsverbund, Friedhelm Käpnick, der ebenfalls aufgabenbasiert arbeitet (mit ‚substanziellen Aufgaben‘) nennt das daher ‚natürliche Differenzierung‘. Einzelne Aspekte der Bearbeitung und des Aufgabenprodukts können in verschiedenen Graden der Ausdifferenzierung, der Präzision, der Komplexität, der Strukturierung, aber auch der Sorgfalt und des Wissensreichtums oder der Wissenstiefe ausgestaltet sein. Natürlich gehören auch Arbeitstempo und Zeit dazu. Im Projekt konnten wir sehen, wie eine Lehrerin überrascht war davon, zu welch guten Ergebnissen einer ihrer Schüler kommen konnte, wenn er genügend (individuelle) Zeit für die Bearbeitung hatte. Differenzierung ergibt sich aber auch auf der Angebotsebene, z.B. in der Nutzung von Unterstützungsangeboten, im Arbeitsprozess (Strategien, Zielorientierung, Effizienz, Kooperation) und natürlich auf der Zielebene bei der Güte und Qualität des Arbeitsergebnisses.

Individualisierung

Differenzierung kann auf diese Weise tatsächlich Individualisierung bedeuten. Das klingt vielleicht überraschend oder gar paradox, aber tatsächlich kann mit einer Aufgabe und der Arbeit am gemeinsamen Gegenstand die gesamte Bandbreite an Fähigkeiten, Begabungen und Kenntnissen in einer Lerngruppe adressiert und aktiviert werden.

Adaptivität

Damit komplexe Aufgaben ihr begabungsaktivierendes und differenzierendes Potenzial entfalten können, müssen sie auf die individuellen Mitglieder einer Lerngruppe und deren (wenn auch oft vermutete) Begabungen, Interessen und Neigungen ausgerichtet sein. Die Aufgabe muss thematisch, in den Anforderungen, aber insbesondere auch hinsichtlich des zu ihr gehörenden Material- und Unterstützungsangebots so gestaltet sein, dass sie möglichst passgenau die Kompetenzen und Begabungen der einzelnen Schüler/innen adressiert und herausfordert. Hier ist die Herausforderung, eine kriterienbasierte Diagnose als verlässlichen Ausgangspunkt der Aufgabenplanung zu entwickeln, wie sie Jan S. Schäfer (Gießen) in LemaS-Band 2 (2022; Bielefeld, wbv) vorstellt.

Unterrichtsentwicklung
Aus dem Video-Vortrag zur Arbeit mit komplexen Aufgaben

Es gehört nicht sehr viel dazu sich vorzustellen, dass die Arbeit mit komplexen Aufgaben im Vergleich zu anderen Unterrichtsverfahren, z.B. lehrwerkbasierten, für die Schüler/innen und die Lehrer/innen gleichermaßen eine substanzielle Umorientierung darstellt. Diese betrifft vor allem die Rollen der Lehrer/innen und der Lernenden selber: Die Lehrenden müssen Abstand nehmen vom Prinzip der kontinuierlichen Steuerung aller Lern- und Arbeitsprozesse (und den Mut dazu haben), die Lernenden müsse ihre Arbeit selbst organisieren und gestalten und zahlreiche eigene Entscheidungen treffen, damit sie das Aufgabenziel auf qualitätsvolle Weise erreichen. Vor allem aber müssen die Lehrer/innen die komplexen Aufgaben selbst planen und entwerfen, eine Herausforderung, die durch lehrwerkbasierte Arbeit nicht unbedingt gefordert und gefördert wird.

Eine neue Unterrichtskultur

Unbestreitbar ist, dass mit der eigenen Aufgaben- und Materialentwicklung einiger Aufwand verbunden ist. Daher ist es ratsam so zu verfahren, wie es die meisten Englischlehrer/innen in unseren Forschungsschulen tun: Sie arbeiten in Teams zusammen, in denen mehrere Kolleg/innen gemeinsam komplexe Aufgaben für eine Klassenstufe entwicklen und die sie gemeinsam erproben. Auf diese Weise kann in der Englisch-Fachschaft ein ganzer Aufgaben-Pool entwickelt werden, auf den alle zugreifen können und dessen Aufgaben fast immer für andere Klassenstufen oder andere Themen adaptiert werden können. Auch stellen sich nach und nach Routinen der Aufgabenplanung und -entwicklung ein, sodass dem Aufwand auch eine kollegiale Entlastung gegenübersteht. Vor allem aber ist eine der wichtigsten Erfahrungen im Projekt überhaupt, dass die andere Rolle der Lehrer/innen in der aufgabenbasierten Arbeit eine beträchtliche Entlastung im Unterricht selbst mit sich bringt, weil nicht im Minutentakt Impulse und Reaktionen erfordert sind, sondern ein kontinuierliches Monitoring und planvolle, gezielte Interventionen, die an die Aufgabenstellung und deren eigenständige Bearbeitung gebunden und auf die qualitätsvolle Erreichung des Aufgabenziels durch die Lernenden gerichtet sind.

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