Das Holocaust-Tabu

Es ist eine traurige Wahrheit, dass die Welt voller Erzählungen und Zeitzeugnissen von Holocaust-Erfahrungen ist. Viele von ihnen, wie Judith Kerrs Romane, sind survivor Erzählungen, die Zeugnis ablegen von der Möglichkeit, für die Opfer einzutreten, Verfolgten Schutz zu gewähren und Kindern eine neue Familie zu geben. Der didaktische Befund dagegen ist deprimierend: Der Holocaust ist kein Thema im Englischunterricht, vielleicht auch nicht im Fremdsprachenunterricht allgemein. Es ist keine Koketterie, wenn ich konstatiere, dass sich in dieser Hinsicht gegenüber meinem Befund zu Beginn der 2000er Jahre praktisch nichts geändert hat. 

Zeitzeugenschaft

Am 22. Mai 2019 ist Judith Kerr gestorben. Sie wurde 95 Jahre alt und war eine der Jahrhundertzeug/innen, die als Kind mit ihrer jüdischen Familie über mehrere europäische Länder und Stationen vor den Nationalsozialisten fliehen musste. Ihr Roman When Hitler Stole Pink Rabbit (1971) gehört zu den wenigen literarischen Zeugnissen einer Kindheit unter dem Holocaust, die in die Schule Eingang gefunden haben – wenngleich oft genug im Deutsch- und nicht im Englischunterricht. Diesem Roman folgten zwei weitere, die die Geschichte der jungen Anna weitererzählen, von den Nöten der Familie während der Bombardierung Londons durch die Deutschen (Bombs on Aunt Dainty, 1975) und von der Rückkehr nach Deutschland mit Erinnerungen an ihre Kindheit und sehr deprimierenden Erfahrungen wie dem Selbstmordversuch der Mutter (A Small Person Far Away, 1978). 

Der Holocaust im Fremdsprachenunterricht

Leider sind Judith Kerrs Leben und Werk mit bewegenden, liebevollen Geschichten im Angesicht der Grausamkeit nicht einmal im Fremdsprachenunterricht in Deutschland wirklich bekannt, obwohl ihre Kinder-Bildergeschichte The Tiger Who Came to Tea (1968) oder ihre Mog the Cat-Serie zum kulturellen ikonographischen Bestand Großbritanniens gehören. Kerrs Romane sind, wie viele andere Holocaust Survivor-Erzählungen, Belege dafür, dass man inmitten völkermordender Gewalt Humanität bewahren und zumindest aufscheinen lassen kann; dass, wie Ruth Klüger es in ihrer Autobiographie weiter leben. Eine Jugend (1992) in der wiedererlernten deutschen Sprache sagt, „gerade in diesem perversen Auschwitz das Gute schlechthin als Möglichkeit bestand, als ein Sprung über das Vorgegebene hinaus.“ (Klüger 1997: 136). Wir müssen solchen Holocaust Survivor Erzählungen und diesen Erinnerungen einen Platz im Englisch- und im Fremdsprachenunterricht geben.

Holocaust Childhoods Erzählungen

Die Relevanz für den Englischunterricht ergibt sich schon daraus, dass sehr viele fiktionale und nicht-fiktionale autobiographische Zeugnisse in englischer Sprache von Holocaust Childhoods erzählen. Das ist kein Zufall: Viele jüdische Kinder – viele von ihnen ohne ihre Eltern und Geschwister, die in die Todeslager deportiert wurden – haben in den USA oder, wie Judith Kerr, in Großbritannien eine neue Heimat und eine neue Sprache gefunden. Vom Trauma der Kindertransporte nach Großbritannien, die vielen jüdischen Kindern aus ganz Europa das Leben rettete, sie aber für immer von ihren Eltern und Familien trennten, erzählt W.G. Sebald auf eindringliche und unvergessliche Weise in seinem Roman Austerlitz (2001), der vor allem in Großbritannien auf sehr viel Resonanz stieß.

Ein Jugendroman aus jüngerer Zeit ist Markus Zusaks Roman The Book Thief (2005)der aus der Perspektive der jungen Liesel von einer Familie erzählt, die einem Juden Unterschlupf gewährt. Zu den großartigen literarischen und filmischen Zeugnissen gehören natürlich auch Steven Spielbergs Holocaust-Film Schindler’s List (1993) und die Romanvorlage dazu (Keneally 1982) ebenso wie die online bei der Shoah Foundation Visual History zugänglichen Erzähl-Videos von Zeitzeugen oder Art Spiegelmans zweibändige  Graphic Novel Maus (1986, 1992). Es gibt also eine riesige Zahl an Quellen, Texten und Bildern. Viele von ihnen, wie Art Spiegelmans Maus oder die französisch-katalanische Graphic Novel Le Convoi (2013), schlagen selbst die Brücke aus der schrecklichen Vergangenheit in unsere Gegenwart, indem sie den Akt des erinnernden Erzählens thematisieren. Wir müssen diese Brücken nur gemeinsam mit unseren Schüler/innen betreten.

Die Dringlichkeit der kulturellen Erinnerung

Das erneute Aufkeimen von Rassismus und Antisemitismus, die Präsenz von Flucht und Verfolgung in unseren Schulen und Klassenzimmern und nicht zuletzt die stetig geringer werdende Zahl lebender Zeitzeug/innen des Holocaust nötigen uns geradezu, uns der historischen Erfahrung des Völkermordes und der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus mit verheerenden Folgen für die Opfer, aber auch für die dafür verantwortliche deutsche Gesellschaft zu stellen.

Die Geschichte der eigenen Schule

Leider fördert auch die Erforschung der Geschichte der eigenen Schule oft genug Erzählungen von antisemitischer Diskriminierung, Flucht und Deportation zutage. Diese Erzählungen müssen, wie Kerry Weinbergs Erinnerungen an das Ende ihrer Zeit auf der Höheren Mädchenschule in Trier (die Vorläuferin des heutigen Auguste Viktoria Gymnasiums, ‘meiner‘ Schule), Teil der kulturellen Erinnerung einer Schule und der sie umgebenden Gesellschaft sein. Kerry Weinberg erzählt in ihrer Zweitsprache Englisch, wie Hitlers Machtergreifung alles änderte: ihre Freundschaften in der Schule, den Alltag der Familie, das öffentliche Leben:

„It was Saturday, April 1, 1933 […]. On that Saturday, I walked home alone through the familiar narrow one-way streets of the business section, bordered by mostly Jewish-owned shops and department stores. The usually crowded, very lively area had turned into a ghost city – all the stores were closed, the streets deserted. The entrances were guarded by uniformed stormtroopers and huge posters displaying predatorial caricatures of Jews and slogans from Der Stürmer. The Nazi newspaper covered the walls and windows everywhere. My Catholic co-students, with whom I had been very chummy until recently, had probably been prepared for that boycott and hate demonstrations in their new organization, the BDM, Bund deutscher Mädchen (League of German Girls). However, I was completely shocked: the only Jewish girl in my class and one of two in our girls’ school.” (Weinberg 1997, part 1)

Wir müssen solche Erzählungen lesen, damit die Erinnerung an diese und noch schlimmere Tage wachgehalten wird. Solche Tage dürfen sich nie mehr wiederholen; denn wir können wissen, dass sie in Mord, Krieg und Zerstörung enden.

Literarische und filmische Texte

Keneally, Thomas (1982). Schindler’s List. New York: Simon. & Schuster; Kerr, Judith (1971). When Hitler Stole Pink Rabbit. London: Harper Collins; Kerr, Judith (1975). Bombs on Aunt Dainty. London: Harper Collins; Kerr, Judith (1978). A Small Person Far Away, 1978. London: Harper Collins. Klüger, Ruth (1997) [1992]. weiter leben. Eine Jugend. München: dtv; Sebald, W.G. (2002) [dtsch.: 2001]. Austerlitz. London: Penguin; Spiegelman, Art (2003). The Complete MausMaus I: A Survivor’s Tale. My Father Bleeds History [1986]. Maus II: And Here My Troubles Began [1992]. London et al.: Penguin, Spielberg, SteVen (1993). Schindler’s List. Universal Pictures; Torrents, Eduard & Lapière, Denis (2013). Le Convoi. Première Partie. Marcinelle/Paris: Dupuis, USC Shoah Foundation Visual History Archive Online. https://vhaonline.usc.edu/; Weinberg, Kerry (2003). Scenes from Hitler’s “1000 Year Reich”. Twelve Years of Nazi Terror and the Aftermath. New York: Prometheus; Zusak, Markus (2005). The Book Thief. New York: Knopf.

Mehr zu Holocaust survivor narratives

Hallet, Wolfgang (2002). „Wartime Lies: Holocaust Childhoods. Die Modellierung eines mehrsprachigen Diskurses im Unterricht. Kap. X in: Fremdsprachenunterricht als Spiel der Texte und Kulturen. Intertextualität als Paradigma einer kulturwissenschaftlichen Didaktik. Trier: WVT. 221-251; (2003). Shifting Languages, Cultures and Identities in Holocaust Childhood Memoirs and Narratives. In: Auguste-Viktoria-Gymnasium Trier (Hrsg.). 350 Jahre Bildung und Erziehung. Auguste-Viktoria-Gymnasium TrierUnesco-Projekt-Schule. Festschrift. Trier: AVG Eigenverlag. 278–293; (2015). Literarisches und multiliterales Lernen mit Graphic Novels im Fremdsprachenunterricht. In: Küster, Lutz, Lütge, Christiane & Wielandt Katharina (eds.). Literarisch-ästhetisches Lernen im Fremdsprachenunterricht. Theorie, Empirie, Unterrichtsperspektiven. Frankfurt / Main: Lang. 193-207.

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