Corona Poetry

Der eingeschränkte Regelbetrieb an deutschen Schulen zwischen Mai und Juli 2020 erforderte eine neue Unterrichtsorganisation, die weitestgehend den einzelnen Schulen überlassen wurde. Da die Schüler/innen dadurch deutlich weniger Präsenzunterricht hatten, nutzte ich die Gelegenheit, um mit sieben besonders an Englisch interessierten Schüler/innen der 6. Klasse an der August-Bebel-Gesamtschule Wetzlar ein kleines außerunterrichtliches Corona Poetry Project durchzuführen. Ziel des Projekts war das Verfassen eines Gedichts über Covid19 und somit eine sprachlich-kreative Auseinandersetzung mit einem Thema, das den Alltag der Schüler/innen sehr dominiert. Somit wollte ich nicht nur das inhaltliche Potential der Pandemie nutzen, sondern auch die Tatsache, dass der Wechsel von Distanzunterricht zu teilweisem Präsenzunterricht erneut einen drastischen Umbruch im Alltag der Schüler/innen bedeutete, der m.E. im Unterricht auf verschiedenste Arten und Weisen thematisiert werden sollte.

Eine Ode an Covid19

Der Einstieg in das Projekt, das insgesamt vier Unterrichtsstunden (2×2) umfasste, war der “Poetry Workshop with Joshua Seigal“ in einem 10-minütigen YouTube Video, in dem der britische Dichter Joshua Seigal Schüler/innen Schritt für Schritt zum Verfassen eines eigenen Gedichts anleitet. Seigal vergleicht das Schreiben eines Gedichtes mit dem Backen eines Kuchens: Man schiebt einen Kuchen nicht sofort in den Ofen, sondern muss vorher überlegen, welche Zutaten man braucht, woher man diese Zutaten bekommt und wie man diese Zutaten miteinander verbindet. Diese Zutaten, so Seigal, findet man in den fünf Sinneswahrnehmungen. Dementsprechend regt er die Schüler/innen dazu an, im Sinne der freien Assoziation möglichst viele Stichpunkte zum gewählten Gegenstand des Gedichts zusammenzutragen und sie den fünf verschiedenen Sinnen zuzuordnen. Auf diese Art und Weise hatten die Schüler/innen die Möglichkeit, ihre individuellen Befindlichkeiten und ihre persönlichen Erfahrungen mit der Pandemie und dem einhergehenden Lockdown zu äußern. 

Assoziationen zu Corona

Meine Schüler/innen begannen also mit dem Erstellen einer Art „Mind Map“ und sammelten an der Tafel verschiedenste Assoziationen zu Covid19, die wir dann der entsprechenden Sinneskategorie zuordneten. Dabei ermunterte ich die Schüler/innen, ihre Assoziationen in der Zielsprache zu formulieren, und griff gegebenenfalls unterstützend ein. Resultat dieser Phase war ein sehr ergiebiges Tafelbild mit teilweise höchstinteressanten Assoziationen. Die Assoziation „disinfectant“ in der Kategorie „taste“ besipielsweise ist eine politische Anspielung auf Donald Trumps Empfehlung zum Umgang mit Desinfektionsmitteln. Auch die Nutzung der Bildsprache war hier schon bemerkenswert.

Eine Modellode

In der zweiten Phase erfolgte nun das Verfassen des Gedichts. Seigal empfiehlt als lyrische Subgattung das Verfassen einer „Ode“, oder „Love Poem“, wie er es zunächst im Video nennt. Dadurch lernen die Schüler/innen nicht nur das Stilmittel der Personifizierung kennen, sondern haben u.a. auch die Möglichkeit der Dramatisierung, die bei Schüler/innen dieser Altersklasse in aller Regel sehr motivierend ist. Als Modell diente hier zunächst Seigals „Ode to a Lychee“ (Seigal 2016), die er im Video vorträgt. Diese kann, je nach Lerngruppe, mehr oder weniger detailliert besprochen werden.

Ein kooperatives Gedicht

Nach der Präsentation der Modellode waren meine Schüler/innen sehr motiviert: Sie wollten nun unbedingt ihre Assoziationen vom Tafelbild in ihre eigene Ode, „Ode to Covid19“, umwandeln. Die Entscheidung für ein kooperatives Verfassen eines Gedichtes (interactive writing) und damit die kollektive Artikulation eines Affektes lag u.a. darin begründet, dass diese Art des Schreibsettings die Schüler/innen gegenseitig inspiriert und motiviert, wodurch einzelne Gedanken leicht aufgenommen und weitergesponnen werden können. Bei dieser Methode kann eine Art Flow oder Welle entstehen, auf die die Schüler/innen ‚aufspringen‘ können. Gleichzeitig wurde mit dieser Methode berücksichtigt, dass das Thema Covid19 auch in der Gesellschaft ein kollektives Befinden auslöst.

Die Rolle der Lehrerin

Bei der Entstehung der Ode nahm ich als Lehrerin hauptsächlich die Rolle einer Stenotypistin (und ggf. einer language help) an, während die Schüler/innen im Sinne eines offenen und dynamischen Unterrichtsgesprächs etwas beitragen konnten, ohne sich vorher zu melden. Ich tippte alles, was geäußert wurde, auf einem leeren Word-Dokument mit, sodass die Schüler/innen die Entstehung des Gedichts quasi live mitverfolgen und dadurch den Schreibprozess bewusster wahrnehmen konnten

Ironie und comic relief

Hier muss noch angemerkt werden, dass meine Schüler/innen beim Verfassen der Ode oft unbewusst das Stilmittel der Ironie benutzten (z.B. „Oh Covid19, you are monstrous“), dies wohl, weil die Ode in Seigal’s Workshop mit einem Liebesgedicht in Verbindung gebracht wurde und generell eher als Loblied gilt. Mein Eindruck war, dass Die Schüler/innen damit die Spannung abbauen wollten, die diese Thematik umgibt, ähnlich dem Stilmittel des comic relief.

Die Kreativität der Schüler/innen

In der eigentlichen Schreibphase waren die Schüler/innen sehr produktiv. Dies äußerte sich u.a. folgendermaßen: Sie 

  • formulierten einzelne Zeilen basierend auf dem Tafelbild  
  • experimentierten mit der englischen Sprache vor allem auf morphologischer und syntaktischer Ebene (z.B. gegenseitige Verbesserungsvorschläge durch andere Formulierungen, „bessere“ Wörter, Ändern der Satzstellung)
  • bauten interessante Gedanken einzelner SchülerInnen weiter aus 
  • erweiterten ihre Assoziationen aus dem Tafelbild (z.B. in der Kategorie „taste“: „You wanted to taste humans, bats weren´t enough“)
  • experimentierten mit der Form und gattungsspezifischen Merkmalen der Ode, z.B. der Apostrophe („Oh Covid19“), der Exlamatio oder des Parellelismus sowie dem bewussten Verzicht auf Endreime 
Fazit

So entstand kollektiv die „Ode to Covid19“, die ich anschließend bei einem britischen Lyrikwettbewerb einreichte. Obwohl das Projekt selbstverständlich auch in der Muttersprache durchgeführt werden kann, hatten meine Schüler/innen sichtlich Freude daran, mit der englischen Sprache im Rahmen einer etwas unkonventionelleren Textsorte zu experimentieren, dadurch ihren Wortschatz zu erweitern und letztendlich ein solch gelungenes Endprodukt, die „Ode to Covid19“ zu erschaffen – und das in der Fremdsprache im 2. Lernjahr!

Literatur

Seigal, Joshua. I don´t like Poetry. London: Bloomsbury, 2016

Ein Kommentar

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  • Das ist ein sehr schöner Bericht über Schule in Zeiten von Corona und des damit verbundenen lockdown. Diie Idee, Schüler/innen auf diese Weise – in einer Fremdsprache -, an zeitnahe Gedichtsformen heranzuführen, ist wirklich bemerkenswert. Und ich finde es auch überraschend, dass viele Jungens in der Gruppe mitwirkten! Jedenfalls hatten wohl alle ihren Spaß bei der Umsetzung der Aufgabe. Zeilen lesen sich sehr positiv!!!

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