Digitalisierung: Neuland 1979

Jüngst habe ich einen PC mit Windows 95 entsorgt, 95 für 1995 und ein Betriebssystem, das sich Mitte der 1990er Jahre von der Oberfläche der DOS-Befehle verabschiedete und die komplette Nutzung visualisierte. Das ist erwähnenswert, weil die Popularisierung der Personalcomputer und der Internetnutzung nun mehr als dreißig Jahre zurückliegen, ohne dass die Bildungspolitik und die Curricula angemessen darauf reagiert hätten.

Digitialisierung 1979

Dagegen steht die Beobachtung, dass es schon beinahe zu den standardisierten Textbausteinen im Digitalisierungsdiskurs gehört, auf die Neuartigkeit der Herausforderungen zu verweisen; und in der Didaktik (vor allem in curricularen Verlautbarungen) ist ’neue Medien‘ immer noch ein Synonym für alles Digitale. Da ist es nötig, sich einmal weiter zurückliegender kulturwissenschaftlicher Überlegungen zur Digitalisierung des Wissens und der Bildung zu erinnern: Jean-François Lyotard hat bereits im Jahr 1979 (im französischen Original), also vor mehr als 40 Jahren, in seiner Schrift La condition postmoderne. Un rapport sur le savoir die Diagnose gestellt, dass die Digitalisierung das kulturelle Wissen und den gesellschaftlichen wie individuellen Umgang damit verändern, ja sogar die Wissenschaften vor Legitimationsprobleme stellen wird.

Eine hochschuldidaktische Schrift

Beinahe gänzlich übersehen wurde, dass es sich dabei um eine didaktische Schrift handelte. Sie ist kaum als solche rezipiert worden, obwohl dieser rapport sur le savoir eine Auftragsschrift des Universitätsrates der kanadischen Provinz Quebec war. In nuce ist darin alles enthalten, was sich an kulturellen Transformationen und Wirkungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung beobachten lässt. Im ersten Kapitel schreibt Lyotard:

Man kann vernünftigerweise annehmen, daß die Vervielfachung der Informationsmaschinen die Zirkulation der Erkenntnisse ebenso betrifft und betreffen wird, wie die Entwicklung der Verkehrsmittel zuerst den Menschen (Transport) und in der Folge die Klänge und Bilder (Medien) betroffen hat.

In dieser allgemeinen Transformation des Wissens bleibt die Natur des Wissens nicht unbehelligt. Es kann die neuen Kanäle nur dann passieren und einsatzfähig gemacht werden, wenn die Erkenntnis in Informationsquantitäten übersetzt werden kann. Man kann daher die Prognose stellen, dass all das, was vom überkommenen Wissen nicht in dieser Weise übersetzbar ist, vernachlässigt werden wird, und daß die Orientierung dieser neuen Untersuchungen sich der Bedingung der Übersetzbarkeit etwaiger Ergebnisse in die Maschinensprache unterordnen wird. Die „Produzenten“ des Wissens sowie seine Benutzer müssen von nun ab über die Mittel verfügen, das in diese Sprachen zu übersetzen, was die einen erfinden und die anderen zu lernen trachten. (Lyotard 1979: 23)

Neues Wissen – neues Lernen

Sehr bemerkenswert ist, dass hier bereits – 1979 – die neue, digitale Qualität des Wissens in einen direkten Zusammenhang mit dem Lernen gestellt wird. Aber darüber hinaus lassen sich für den Kontext der schulischen Bildung und des Fremdsprachenlernens die mit dieser Generaldiagnose verbundenen Fragen wie folgt ausbuchstabieren:

1 Erstens stellt sich die Frage danach, wie sich das ‚alte‘, analoge Wissen zu den neuen, digitalen Formen des Wissens (’neu‘ in 1979!) verhält. Wird das analoge Wissen veralten, obsolet werden? Oder werden analoges Wissen und Können, also dessen Handhabung, in einem Kontinuum mit- und nebeneinander existieren?

2 Ist das ’neue‘ Wissen bloß eine ‚Übersetzung‘ des alten in ein digitales? Oder bedeutet ‚Transformation‘, dass das Wissen eine gänzlich neue, spezifische, eben digitale Qualität aufweist? Was genau ist in diesem Fall seine ‚Natur‘?

3 Verändert die Digitalisierung, verändern die digits die Erkenntnisgewinnung und die Wege der Wissenserzeugung?

4 Über welche Fähigkeiten und ‚Mittel‘ müssen die ‚Produzenten‘ des Wissens und diejenigen verfügen, die es erwerben und erlernen? Wie verändert die Digitalisierung die Akteur/innen selbst?

Die Bedeutung der Sprache

Die Antworten liegen zum Teil auf der Hand, zum Teil aber warten sie immer noch auf eine genauere didaktische Erforschung – nicht nur in der Fremdsprachendidaktik. Hier kann nicht die ganze Schrift Lyotards in all ihrer Bedeutsamkeit für die schulische Bildung und den Fremdsprachenunterricht rekapituliert werden; tatsächlich aber hebt Lytoard in seiner Eingangshypothese auf die überragende Bedeutung der Diskursivität des Wissens und der Sprache, die Erzeugung des Wissens und seinen Erwerb ab. Seine gesamte Theorie der Postmoderne beruht im Grunde auf der Annahme der Sprachlichkeit des Wissens.

Sozialität und Kommunikation

Natürlich stellen sich aus heutiger Sicht viele der von Lyotard angestoßenen Fragen als zentraler heraus als 1979; manche Implikationen, wie z.B. das Potenzial der sozialen Vernetzung oder die Multimodalisierung aller Kommunikation waren damals naturgemäß noch nicht so genau erkennbar. Das betrifft z.B. neue Arten der Sozialität, die die zahlreichen sogenannten sozialen Netzwerke im Internet hervorbringen. Am offensichtlichsten und für den Fremdsprachenunterricht von grundlegender Bedeutung sind aber die Auswirkungen auf das große Feld der Kommunikation und auf die Herausbildung von Diskursen sowie auf die darin sich manifestierenden Machtverhältnisse. Im Einzelnen sind dies die deutlichsten Folgen:

  • Beschleunigung: Die weltweite elektronische Vernetzung hat die Kommunikation enorm beschleunigt, weil Äußerungen synchron rund um den Globus zirkulierbar sind.
  • Vervielfachung der Äußerungsakte und Informationsmengen: Die Zahl der gleichzeitig getätigten und vor allem wahrgenommen Äußerungsakte, der zugänglichen Texte aller Art (vor allem von Bildern) und damit der Menge der Informationen hat sich ins Unendliche vervielfacht.
  • Vervielfältigung der kulturellen, weltanschaulichen, ethischen Orientierungen, Lebensentwürfe und Lebensstile: Lyotards Schrift handelt auch davon, dass in der Postmoderne zuvor unangefochtene große Erzählungen wie das Christentum oder der Marxismus nicht länger universelle Gültigkeit beanspruchen; in Konkurrenz zu zahlreichen anderen, ggf. auch neuen Metaerzählungen müssen sie sich beständig neu legitimieren und „die Verbindlichkeit der von ihnen geprägten Identitäten, Familienbilder und Lebensläufe [geht] zurück.“ (Stalder, S. 129)
  • Multiplizierung der semiotischen Modi: Die technologische Möglichkeit der ‚Übersetzung‘ und Verknüpfung aller semiotischen Modi, ob Bild, Worttext oder Audiotext, in digits (also der ‚Übersetzung‘ in Lyotards Sinn) hat die Bedeutung einzelner, vor allem visueller (hier wieder: fotografischer) Modi enorm gesteigert. Die Möglichkeit der Verknüpfung hat aber auch allen Arten von multimodalen Äußerungen (multimediale Webseiten, Comics, Filme, Memes, Video Games usw.) zu einer überragenden kulturellen Bedeutung und Wirksamkeit verholfen. Anders gesagt: Ein sehr großer Teil der Kommunikation beruht nicht mehr nur auf Worttexten, wird also nicht mehr monoliteral, sondern in anderen Kodierungen multiliteral geführt. 
  • Generischer Wandel: Die digitalen Umgebungen, ihre Betreiber (vor allem die digitalen Monopolisten) und ihre Nutzer/innen bringen beständig neue Formen und Genres der Kommunikation hervor, von denen manche sich etablieren, andere aber nach vergleichsweise kurzer Zeit bedeutungslos werden.
  • Sichtbarkeit: Die Akteur/innen im Diskurs erlangen in digitalen Umgebungen ein zuvor nicht mögliches Maß an individueller Sichtbarkeit und Präsenz, die erhebliche Auswirkungen auf die Prozesse der Identitäts- und Persönlichkeitsbildung hat.
Fremdsprachendidaktik 2020

All diese Entwicklungen sind in Lyotards rapport zum neuen digitalen Wissen, zu Epistemologien und zum Lernen zumindest implizit enthalten. Die Fremdsprachendidaktik steht also seit Langem – spätestens seit 1979 – in der Pflicht, all diese Entwicklungen aufzunehmen, zu curricularisieren und didaktisch in Formen des Lehrens und Lernens zu übersetzen.

Zum Weiterlesen: Jean-François Lyotard (1979): La condition postmoderne. Un rapport su le savoir. Paris: Ed. De Minuit. [in Deutsch und Englisch 1984] | Wolfgang Hallet (2002). Fremdsprachenunterricht als Spiel der Texte und Kulturen. Intertextualität als Paradigma einer kulturwissenschaftlichen Didaktik. Trier: WVT. Darin:  Kap. 1 „Lektüren, Patschwork, Hypertext“ und Kap. 2, „Fremdsprachenunterricht als Spiel der Texte“. | Felix Stalder (2016). Digitalität der Kultur. Frankfurt/Main. Suhrkamp.

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